Eine Reportage aus Nicaragua von: Korrespondent Nicaragua
Am 7. November dieses Jahres wurden die Bürgersteige in Nicaragua, soweit es sie jedenfalls gibt, hochgeklappt. Die Straßen waren wie leergefegt. Es fuhren kaum Autos durch die Straßen, keine Mopeds, keine Lastwagen, keine Pferdegespanne. Es waren nahezu keine Fußgängerinnen zu sehen. Die Cafés und Kneipen blieben leer, die Restaurants warteten vergeblich auf ihre Gäste. Bei meinem morgendlichen Frühsport sah ich zwischen 5:30 und 7:00 Uhr ungewöhnlich leere Straßen, obwohl die FSLN ihre Anhänger aufgefordert hatte, schon morgens um 7:00 Uhr in die Wahlzentren zu gehen. Mehrere meiner Gesprächspartnerinnen machten in Managua und auch in León mit ihren Motorrädern oder Autos mehrfach Touren, um die Stimmung in der Nachbarschaft aufzufangen. Sie berichteten, dass die Städte wie ausgestorben wirkten. Die Fenster und Türen der Häuser waren verschlossen. Niemand ging hinein oder hinaus. Die meisten meiner weiteren Kontakte bestätigten dieses Bild.
Noch wenige Wochen vorher war nicht klar, wie sich die Menschen an diesem Tag verhalten würden. Umfragen prognostizierten der FSLN und ihren Kandidatinnen eine Wahlunterstützung von 20 Prozent oder sogar darunter. Alle anderen Parteien kamen nur auf Unterstützungswerte von weit unter 10 Prozent. Nur einige potenzielle Kandidatinnen für die Präsidentschaft konnten höhere Werte erreichen, wie zum Beispiel Christiana Chamorro, deren Wahlaussichten mit über 50 Prozent angegeben wurden. Die Opposition gab ein schwaches und völlig unkoordiniertes Bild ab. Der Oberste Wahlrat entzog jedoch einer Oppositionspartei nach der anderen ihre Parteienstatus. Die verschiedenen Persönlichkeiten, die für die Präsidentschaft kandidieren wollten, wurden verhaftet oder unter Hausarrest gestellt, wodurch ihre Kandidaturen unmöglich gemacht wurden. Daher machte sich eine Stimmung breit, völlig unabhängig vom Kandidaten oder von der Kandidatin für die Partei zu stimmen, die die politische Opposition gegen Ortega-Murillo in irgendeiner Weise zum Ausdruck bringen konnte. Als jedoch am 7. August dieses Jahres auch noch der Partei Ciudadanos por la Libertad (CxL, Bürger für die Freiheit), der letzten noch legalen Oppositionspartei, ihre Rechtspersönlichkeit aberkannt und ihre Kandidatinnen unter Hausarrest gestellt wurden, verbreitete sich immer mehr die Parole: Quédate en la casa! (Bleib zu Hause!). Und so ist es dann auch gekommen.
Offiziell wurde das Ergebnis der Abstimmung – von Wahlen konnte unter diesen Bedingungen nicht die Rede sein – mit einer Beteiligung von 65,26 Prozent und einem Ergebnis von 75,87 Prozent für die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) angegeben. Dies ist jedoch völlig unglaubwürdig.
Nichtwähler und zur Wahl Gezwungene
Die unabhängige und von unten organisierte Organisation Observatorio Ciudadano Urnas Abiertas (Beobachtergruppe Offene Wahlurnen) hatte eine stille Beobachtung des Abstimmungsprozesses organisiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sich 81,5 Prozent der Wahlberechtigten nicht an dieser Farce beteiligt haben. 1.450 Personen haben sich an dieser Aktion beteiligt, die in allen Departamenten und in 78 Prozent der Gemeinden durchgeführt wurde. Sie zählten dabei alle Personen, die jeweils morgens, mittags und abends während 2 Stunden die ausgewählten 563 Wahllokale betraten (es wurden also auch Leute mitgezählt die die Wahllokale möglichweise nicht betraten, um ihre Stimme abzugeben). Diese Anzahl wurde auf 11 Stunden, die Öffnungszeit der Lokale, hochgerechnet und mit der Anzahl der im Wahlregister des Obersten Wahlrates veröffentlichten Wahlberechtigten verglichen. Die Verlässlichkeit dieser Untersuchung wurde von den Organisatoren mit 95 Prozent angegeben.
Diese Angaben decken sich mit eigenen Beobachtungen am 7. November selber und auch danach. Denn alle, die an der Abstimmung teilgenommen hatten, mussten ihren rechten Daumen mit einer Farbe markieren, die nicht abwaschbar war. So schaute ich in den Tagen nach der Wahl auf die Hände, insbesondere auf die Daumen, der Menschen auf der Straße, auf den Märkten, in den Restaurants … und konnte etwa nur bei jeder zehnten Person eine entsprechende Einfärbung erkennen.
Dabei ist jedoch auch zu bedenken, dass alle Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes gezwungen wurden, an der Abstimmung teilzunehmen. Dabei reichte es den Behörden, Schulen, Krankenhäusern usw. noch nicht einmal, dass ihre Angestellten ihren eingefärbten Daumen vorzeigen mussten, sie mussten zudem auch noch ein Selfie von sich selbst im Wahllokal machen, um ihre Teilnahme gegenüber ihren Vorgesetzten nachzuweisen. Wer nicht teilnahm, riskierte, seinen Arbeitsplatz zu verlieren.
Es waren nirgends längere Schlagen an den Wahlurnen zu sehen, selbst das Staatsfernsehen konnte keine zeigen. An Stelle von international anerkannten Wahlbeobachtern nahmen von der Regierung ausgesuchte internationale Wahlbegleiter an diesem Prozess teil. Auch ihnen fiel auf, dass es keinen großen Andrang an den Wahllokalen gab. Dies wurde von „Wahlbegleitern“ teilweise so erklärt, dass der gesamte Ablauf der Abstimmung so gut organisiert war, dass es – im Gegensatz zu vorherigen Wahlen und auch im Gegensatz zu Wahlen in anderen lateinamerikanischen Ländern – zu keinerlei Schlangenbildung kam.
Für die Tage vor dem Wahltermin und auch am Wahltag selbst herrschte im ganzen Land ein striktes Alkoholverbot. Als jedoch im Laufe des Wahlsonntags für alle Welt offensichtlich wurde, dass die Straßen leergefegt und die meisten Leute zu Hause geblieben waren, hielt Ortega – mitten am Wahltag einer Wahl, an der er selbst als Kandidat teilnahm! – plötzlich eine im Fernsehen übertragene Rede, in der er nicht nur indirekt das Alkoholverbot aufhob, um damit die Leere auf den Straßen zu beenden, sondern in der er auch noch einmal – wenn auch vergeblich – zur Wahlteilnahme aufrief.
Ortegas Wutausbruch
Am folgenden Tag war ein Ortega zu erleben, wie es ihn noch nicht gegeben hat. Er hielt – vor handverlesenem Publikum, so wie es seit geraumer Zeit von ihm praktiziert wird – eine Rede, in der er die von seinem Regime verhafteten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die seine Politik kritisiert hatten oder auch für die Präsidentschaft kandidieren wollten, als Vaterlandsverräter und als hijos de perra (Hundesöhne) bezeichnete. Er sprach ihnen damit nicht nur das Recht auf ihre nicaraguanische Staatsbürgerschaft ab, sondern sogar ihre Qualität als Menschen. Es war eine wütende Rede, eine Rede ohne Kontrolle, die Rede eines Verlierers. Er zeigte, dass er mit seinem gefälschten Wahlergebnis von fast 76 Prozent keineswegs glücklich war. Er zeigte keinerlei Perspektive auf, keine Zuversicht und schon gar keinen Willen zum Dialog oder gar zur Verständigung. Um sich selber und auch den anderen zu zeigen, wie beliebt er trotzdem ist, begrüßte er nach seinem Wutausbruch diverse geladene Gäste mit Handschlag und ließ sich von ihnen feiern. Besonders herzlich umarmte er den Musiker, der das dümmliche Lied „Ortega bleibt, auch wenn es schmerzt“ intoniert hatte.
Die Situation nach diesem Wahltag war eine treue Fortsetzung der Verhältnisse davor. Der Oberste Wahlrat hatte sowieso alle öffentlichen Veranstaltungen und Kundgebungen verboten. Er forderte die kandidierenden Parteien dazu auf, sich auf virtuelle Aktivitäten im Internet und übers Handy zu beschränken. Ansammlungen von über 200 Personen wurden ausdrücklich untersagt. Jugendliche und Schwangere sollten grundsätzlich nicht an Wahlaktivitäten teilnehmen. Es gab keinerlei Wahlplakate, keine Transparente, keine Parolen auf den großen Werbeflächen an den Straßen, keine Fahnen, keine Bilder von den Kandidatinnen, keine Lautsprecherwagen, keine Autokaravanen … nichts, was den unbedarften Beobachter hätte darauf hinweisen können, dass in Nicaragua gerade Wahlkampf herrschte. Trotzdem bekamen die Parteien, die an der Abstimmung teilnehmen durften, insgesamt 23,4 Millionen US Dollar an Erstattung für ihre Wahlkampfkosten ausgeschüttet, davon 17,4 Millionen die FSLN und die restlichen 6 Millionen die übrigen Parteien als Dank dafür, dass sie an dieser Farce teilnehmen.
Angst beherrscht das Land
In Nicaragua herrscht Angst. Angst vor den Nachbarn, vor den Gästen am Nachbartisch im Restaurant, Angst vor der Verhaftung durch die Polizei, Angst vor den Kolleginnen und den Vorgesetzten, Angst vor den Mitfahrenden im Bus oder im Taxi, Angst vor den Straßenkontrollen, Angst davor, auf einer der Schwarzen Listen der FSLN zu stehen, und sogar Angst, im Familienkreis das Falsche zu sagen. Viele Familien fallen auseinander oder können nur dadurch zusammengehalten werden, dass in ihnen nicht mehr über Politik gesprochen wird. Wer das Land verlassen kann, der oder die reist zu Verwandten in Costa Rica, in Panamá oder in die USA, einige suchen sogar in Europa ihr Glück. Viele Häuser stehen leer und werden zur Miete oder auch zum Verkauf angeboten.
Manchen Personen wird jedoch auch der Pass abgenommen, und sie werden an ihrer Ausreise gehindert. Anderen Personen, die eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzen, wird ihre nicaraguanische Staatsbürgerschaft – entgegen der Verfassung des Landes – entzogen, und sie werden ins Ausland abgeschoben. Auch die ausländischen Kräfte, die einst nach Nicaragua gegangen sind, um die Sandinistische Revolution zu unterstützen und beim Aufbau des Landes zu helfen, geraten immer stärker unter Druck. Sie werden ständig kontrolliert, teilweise auch offen schikaniert. Sie müssen sich alle 14 Tage oder einmal monatlich bei der Ausländerbehörde melden und dürfen sich in keiner Weise politisch äußern. Einigen, die sich beispielsweise auf Facebook kritisch zum Regime Ortega geäußert hatten, wurden eben diese Äußerungen vorgehalten und mit der Drohung verbunden, dass sie ausgewiesen werden, falls sich das wiederholen sollte.
International sind die Ergebnisse des Abstimmungsprozesses in Nicaragua weitgehend als nicht legitim bewertet worden. In Lateinamerika mehren sich – auch innerhalb der Linken – die Stimmen, die das politische Regime Ortega-Murillo kritisieren. Dies führte dazu, dass politische und auch wirtschaftliche Maßnahmen der USA, der EU oder auch der OAS gegen die Regierung Nicaraguas und gegen Personen, die persönlich für Unterdrückungsmaßnahmen verantwortlich sind, erwägt werden. Aber einerseits ist es nicht leicht, Sanktionen nur auf wichtige Repräsentantinnen des Regimes zu beschränken ohne die Bevölkerung Nicaraguas darunter leiden zu lassen, und andererseits wird es auch immer deutlicher, dass das Regime relativ immun gegenüber derartigen Sanktionen ist und nur durch eine Bewegung des Volkes selber vertrieben werden kann.