Autor: Korrespondent Nicaragua (10.10.2021)
Die aktuelle Situation in Nicaragua ist von einer völlig irrationalen staatlichen Repression gekennzeichnet, bei der das Präsidentenpaar Daniel Ortega und Rosario Murillo vollkommen darauf verzichtet, auch nur den Anschein von demokratischen Verhältnissen zu wahren.
Alle Parteien, die zumindest in einer gewissen Opposition zum Regime Ortega standen, sind illegalisiert worden. Sieben potentielle Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen vom 7. November 2021, wurden verhaftet. Andere wurden unter Hausarrest gestellt, und ihnen wurde jegliche öffentliche Stellungnahme verboten. Über 30 weitere Repräsentanten der politisch breit gefächerten Opposition, unter ihnen Männer und Frauen der Politik, der Studentenschaft, des Journalismus, des Unternehmertums, der Landarbeiter, der Rechtsanwaltschaft, der Kultur und der Zivilgesellschaft, wurden in den Knast gesteckt. Allen diesen Persönlichkeiten wurden unter dem Vorwand von absurden Beschuldigungen, wie Geldwäsche, Landesverrat oder Terrorismus, nicht nur ihre Freiheit genommen, sondern sie wurden auch von jeglicher Teilnahme am politischen Geschehen Nicaraguas ausgeschlossen.
Wahlen ohne Wahl
Am 6. August 2021 hat der Oberste Wahlrat Nicaraguas der Partei Ciudadanos por la Libertad (CxL, Bürger für die Freiheit) der letzten Partei, die noch eine gewisse Verbindung zur Opposition hatte, ihre Rechtspersönlichkeit entzogen. Diese Partei hatte versucht, sich durch einen extrem sektiererischen Kurs gegenüber anderen – eher basisdemokratischen – Strömungen der Opposition bei Ortega einzuschleichen. Aber das hat ihr auch nichts genützt. Es gab den Vorschlag, dass alle oppositionellen Kräfte, unabhängig von ihrer eigenen politischen Orientierung und auch unabhängig von den aufgestellten Kandidaten von CxL, für diese Partei stimmen sollten. Dies hätte für Ortega die Gefahr mit sich gebracht, zumindest ein starkes Gegengewicht zur orteguistischen FSLN im Parlament zu bekommen – ein Risiko, das er trotz all seiner Beteuerungen über seine eigene Popularität auf keinen Fall eingehen wollte. Als Präsidentschaftskandidaten wurden der ehemalige Kommandant der Contra Oscar Sobalvarro und als seine Stellvertreterin Bernice Quezada, Miss Nicaragua von 2017, benannt. Aber nur wenige Stunden nach der Bekanntgabe von deren Kandidatur wurde sie unter Hausarrest gestellt und ihre Teilnahme an den Wahlen verboten. Dann folgte die vollständige Illegalisierung von CxL. Die Angst von Ortega und Murillo vor einem schlechten Wahlergebnis ist so groß, dass sie bereit sind, auch den letzten Anschein von demokratischen Wahlen zu zerstören, um den eigenen Machterhalt zu sichern.
Intransparenter Wahlprozess
Dennoch gibt es über ein Dutzend von Miniparteien, die an den Wahlen teilnehmen werden und denen als Ausgleich dafür einige hochbezahlte Posten in der Staatsverwaltung versprochen wurden. Der durch und durch korrupte ex-Präsident Arnoldo Alemán ermöglichte mit seiner Partido Liberal Constitucionalista (PLC) durch einen Pakt mit Ortega, dass dieser ab 2007 erneut die Präsidentschaft erreichen konnte. Als jedoch einige liberale Abgeordnete begannen, die repressive Politik Ortegas zu kritisieren, wurde ihnen die Leitung der Partei entzogen und eine neue, jetzt wieder Ortega-treue, Führung eingesetzt. Ihre Kandidaten Milton Arce Marín und María Dolores Moncada sind völlig unbeschriebene Blätter, sie besitzen keinerlei Programm und niemand kennt sie. Die Partido Alianza Liberal Nicaragüense (ALN) präsentiert sich mit den Kandidaten Marcelo Montiel und Jennifer Espinoza, die ebenfalls völlig unbekannt sind und von denen niemand weiß, wofür sie stehen. Nach einem internen Streit, aus dem die CxL hervorgegangen ist, ist die Partido Liberal Independiente (PLI) wieder voll auf einen Ortega-freundlichen Kurs eingeschwenkt, aber von ihren Kandidaten Mauricio Orúe y Zobeyda Rodríguez sagt man, dass man nur in ihren eigenen Häusern weiß, wer sie überhaupt sind. Ähnliches könnte man über die Partido por la República (APRE) oder die Partido Camino Cristiano (PACC) sagen oder auch über die diversen weiteren Gruppierungen, die häufig in einer Verbindung mit reaktionären protestantischen Sekten stehen.
All diese Parteien spielen in der nationalen Politik Nicaraguas nicht die geringste Rolle. Ihre einzige Existenzberechtigung ziehen sie daraus, dass der Orteguismus sie international als Beweis für den politischen Pluralismus im Lande vorzeigen kann und dass sie dafür mit einigen gut bezahlen Positionen, Aufträgen oder anderen Vergünstigungen belohnt werden.
Der gesamte Wahlprozess ist intransparent und steht unter der alleinigen Kontrolle der aktuellen Regierungspartei FSLN. Weder bei der Vorbereitung, noch bei der Durchführung der Wahlen sind unabhängige nationale oder internationale Beobachter zugelassen.
Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom November gibt es nur die Wahl zwischen Orteguismus und Orteguismus, eine Wahl ohne Wahl. Es gibt keinen Grund, deren Ergebnis als legitimen Ausdruck des Willens des nicaraguanischen Volkes anzuerkennen.
Legalisierung der Repression
Aber es geht nicht nur um Wahlen. Es geht um das gesamte gesellschaftliche Leben in Nicaragua, über das sich ein von außen kaum sichtbarer, jedoch im Lande allseits spürbarer Schleier der Angst gelegt hat. Es gibt insgesamt über 150 politische Gefangene, viele von ihnen sind Opfer der von 48 Stunden auf 90 Tage verlängerten Untersuchungshaft. Sie wurden nicht verhaftet, weil eine Untersuchung ihre Schuld an einem Verbrechen festgestellt hat, sondern sie wurden verhaftet, um eine strafrechtliche Untersuchung gegen sie aufzunehmen. Nach internationalen rechtlichen Standards gelten viele von ihnen als „gewaltsam verschwundene“ Personen, denn bei ihrer Verhaftung lag weder ein Haftbefehl gegen sie vor, noch wurde ihr genauer Aufenthaltsort oder ihre gesundheitliche Situation mitgeteilt. Häufig wird ihnen auch der Kontakt zu ihren Rechtsanwälten und Familienangehörigen verwehrt. Über 100.000 Personen mussten auf Grund von politischer Bedrohung oder auch direkter Verfolgung ins Exil gehen. Es gibt keinerlei Ermittlungsverfahren, um die Umstände der über 300 Todesopfer der staatlichen Repression ab April 2018 aufzuklären und die dafür Verantwortlichen zu bestrafen.
Jegliche kritische öffentliche Meinungsäußerung, selbst das Hochhalten der nicaraguanischen Nationalfahne am Straßenrand oder in Einkaufszentren, wird sofort von der normalen Polizei und von den Aufstandsbekämpfungseinheiten unterdrückt. Diese Einheiten werden dabei in aller Offenheit von Zivilisten, staatlichen Amtsträgern und paramilitärischen Gruppen, die dem Regime Ortega bedingungslos ergeben sind, unterstützt. 55 Organisationen der Zivilgesellschaft wurden illegalisiert und deren Besitztümer beschlagnahmt, darunter auch Organisationen der Gesundheitsversorgung, des Naturschutzes und des Schutzes der Menschenrechte.
Gesetzespaket, um Opposition mundtot zu machen
Seit September 2020 hat das Regime Ortega vier Gesetze beschlossen, die nur ein einziges Ziel verfolgen: Sie sollen die Opposition mundtot machen. Entsprechend des Gesetzes der ausländischen Agenten mussten alle Vereinigungen dem Staat gegenüber offenlegen, mit welchen internationalen Institutionen sie zusammenarbeiten, und die mit ihnen verbundenen Personen verloren dadurch automatisch ihr passives Wahlrecht. Das Gesetz zu Cyberdelikten stellt alle regierungskritischen Äußerungen, die öffentlich oder privat in irgendeinem Medium oder auf irgendeiner Plattform des Internetzes verbreitet werden, unter Strafe von ein bis hin zu zehn Jahren Gefängnis. In dem Gesetz gegen den Hass wird jegliche Kritik an der Regierung als Verbreitung von Hass in der Gesellschaft behandelt und mit einer Höchststrafe von lebenslanger Haft bedroht. Hierfür wurde sogar eine Verfassungsänderung durchgeführt, weil die Höchststrafe bisher auf 30 Jahre Gefängnis begrenzt war. Schließlich wurde im Gesetz der Rechte des Volkes auf Selbstbestimmung festgelegt, dass alle Personen, die einen Staatsstreich organisieren, terroristische Akte begehen, eine Einmischung von außen befürworten oder Sanktionen gegen Nicaragua oder nicaraguanische Staatsbürger fordern, als Vaterlandsverräter bezeichnet werden und dadurch automatisch das Recht verlieren für irgendwelche öffentlichen Positionen zu kandidieren.
Obwohl es keinen ernsthaften Zweifel daran gibt, dass die Opposition in ihrer gesamten Breite immer den zivilen Widerstand gegen die Diktatur propagiert und auch eingehalten hat, bezeichnet die Regierung den zivilen Protest gegen das Regime immer wieder als Terrorismus und als einen von außen gesteuerten Staatsstreich. Dieses gesamte Gesetzespaket ist nichts weiter, als der Versuch eine legale Basis für die völlig willkürliche staatliche Repression zu konstruieren und insbesondere jegliche oppositionelle Beteiligung an den Wahlen auszuschließen.
Kein Recht auf die Menschenrechte
Derzeit werden in Nicaragua fast alle Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gravierend verletzt: Der Grundsatz der Freiheit und Gleichheit aller Menschen (Artikel 1) ist völlig außer Kraft gesetzt. Während die Anhänger der Regierung alle Freiheiten genießen und mit materiellen Vorteilen rechnen können, riskieren die Kritiker der Regierung ihren Arbeitsplatz in der öffentlichen Verwaltung, wenn sie sich weigern, an Pro-Ortega-Kundgebungen teilzunehmen. Das Recht auf Leben und Sicherheit (Artikel 3) wird schwer verletzt, wie die Todesopfer von 2018 beweisen. Die Wohnungen vieler Oppositioneller stehen unter ständiger Überwachung. In einigen Fällen dringen Polizisten in deren Häuser ein, demütigen die Bewohner vor laufender Kamera und stellen die Videos anschließend auch noch ins Internet, was dem Grundsatz des Schutzes vor grausamer und erniedrigender Behandlung (Artikel 6) völlig widerspricht. Die Gleichheit vor dem Gesetz und das Recht auf Schutz durch das Gesetz (Artikel 7) haben in Nicaragua keine Bedeutung mehr. Verbrechen werden nicht verfolgt, wenn sie von Anhängern Ortegas begangen werden, während unschuldige Menschen Schikanen durch die Polizei oder regierungstreue Banden befürchten müssen, wenn sie auf der schwarzen Liste der FSLN stehen. Der Schutz vor willkürlicher Verhaftung (Artikel 9) steht derzeit nur noch auf dem Papier. Die Unabhängigkeit der Gerichte (Artikel 10) ist seit Jahren de facto abgeschafft. Im Januar 2021 erklärte der frühere Richter des Obersten Gerichtshofs von Nicaragua und ebenfalls einer der engsten Vertrauten Ortegas, Rafael Solís, öffentlich, dass alle vom Gericht verhängten Urteile zunächst vom Präsidentenpaar Ortega und Murillo kontrolliert und korrigiert wurden, bevor sie verkündet werden konnten. Das Recht auf Eigentum (Artikel 17) wird verletzt und ignoriert, insbesondere in abgelegenen Gebieten, die von indigenen Gemeinschaften bewohnt werden, da weiße Siedler die traditionellen Bewohner unter dem Schutz von Regierung und Polizei von ihrem Land vertreiben. Das Recht auf freie Meinungsäußerung (Artikel 19) wird mit Füßen getreten. Das Recht auf friedliche Versammlung (Artikel 20) ist seit 2018 de facto ausgesetzt. Das Recht auf ehrliche und freie Wahlen (Artikel 21) ist aktuell zu einer bloßen Farce verkommen.
„Demokratische“ Abschaffung der Demokratie
Die jüngsten Entwicklungen sind keine Überraschung. Ortega kam 2007 nur wieder an die Macht, weil er durch einen politischen Pakt mit seinem korrupten Komplizen, dem Liberalen Alemán, den Mindeststimmenanteil für die Präsidentschaft auf 35 Prozent gesenkt hatte. Bei den 2008 folgenden Kommunalwahlen zeigten sich die ersten massiven Wahlfälschungen durch die regierende FSLN. Die Präsidentschaftswahlen von 2012 konnte Ortega nur „gewinnen“, weil das Verfassungsgericht vorher den Paragraphen der Verfassung für ungültig erklärt hatte, der eine Wiederwahl verbietet. Mit der auf diese Weise illegal gewonnenen Parlamentsmehrheit wurde dann 2014 – nachträglich – das Wiederwahlverbot tatsächlich abgeschafft. So hat Ortega seine Machtposition nach und nach mit mehr oder weniger demokratischen Mitteln ausgebaut, um das demokratische Funktionieren der Gesellschaft von innen heraus immer weiter auszuhöhlen. Dieses System ist nach den Massenprotesten von 2018 in eine offene Diktatur umgeschlagen, die keinerlei politischen Ziele mehr vertritt, als den Machterhalt der Familie Ortega-Murillo abzusichern.
Dieser Artikel erschien im aktuellen Infobrief des Nicaragua Verein Hamburg e.V. Lesen Sie hier mehr.